Judith, die Macherin
Schon bald wurde die Luzerner Bevölkerung und auch die damalige Städtische CVP auf diese aussergewöhnliche Macherin aufmerksam. Früh setzte sich Judith Stamm für frauenspezifische Anliegen ein, dies in einer Zeit ohne Frauenstimmrecht. Sie konnte auch Männer (wenn auch nur einzelne) für die Frauenfragen begeistern. Vor und mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 hatte sie überaus engagiert das politische Leben in Kanton und Bund prägend mitgestaltet. Äussere Zeichen des enormen Engagements von Judith Stamm sind die Ehrennadel der Stadt Luzern (2002) und die Auszeichnung der Juristischen Fakultät Basel mit dem Ehrendoktorat (2011).
Judith, die Politikerin
Während allen beruflichen Herausforderungen war Judith Stamm immer politisch tätig, sie die Verfechterin der Miliz. Sie war denn auch kurz nach Einführung des Frauenstimmrechts eine der ersten Frauen im Luzerner Kantonsparlament, welches damals noch 170 Mitglieder umfasste. Sehr bald war sie dort als profilierte Referentin und Themensetzerin akzeptiert. Sie war Mitglied des Fraktionsvorstandes und präsidierte die Kommission für die Revision des Gesundheitsgesetzes. Diesem Rat gehörte sie bis 1984 an.
Im Oktober 1983 wurde Judith Stamm ehrenvoll in den Nationalrat gewählt: Justiz- und Sicherheitsgeschäfte, aussenpolitische, staatspolitische, gesellschaftspolitische Fragen, selbstverständlich die Frauenanliegen und der sozialer Ausgleich waren ihre Hauptanliegen. Die Mutterschaftsversicherung ist nur eines der vielen Themen, welche auf einen Vorstoss von Judith Stamm zurückgeht. Für alle Aufgaben spannte sie über die Parteigrenzen hinweg mit allen anderen Frauen zusammen, die dieses Engagement mit ihr teilten. In den Jahren 91 – 95 war sie Mitglied des Fraktionsvorstandes. 1986 engagierte sie sich an vorderster Front für einen Schweizer UNO-Beitritt. Sie führte als Parlamentarierin sehr gerne auch Schulklassen durch die vielen Hallen in Bundesbern.
Mit der Bundesratskandidatur 1986 hat Judith Stamm gezeigt: Ich bin bereit, wenn ihr auch wollt. Es kam dann bekanntlich anders. Aber der politische Höhepunkt der markanten Politikerin Judith Stamm war sicher das Nationalratspräsidium 1996/1997. Sie war damals erst die vierte Frau auf dem höchsten Stuhl. Die Präsidentenfeier in Luzern hat gezeigt, welch grosse Bedeutung Judith Stamm in Bundesbern hat. 1999, im Alter von 65 Jahren, hat sie nach 16 Jahren Bundesbern das Nationalratsmandat abgegeben. Die Zeilen in den Medien füllten damals Seiten. Judith Stamm war aber auch Mitglied des Bankrats SNB, des Schweizerischen Wissenschaftsrates, Präsidentin der Kommission für Frauenfragen und vieles mehr. Das Präsidium der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft von 1998 – 2007 hat sie wie alles mit viel Herz und unermüdlicher Beharrlichkeit ausgeübt. Auch hier waren ihr Gerechtigkeitssinn und ihr Einsatz für Frieden und Demokratie spürbar. Übrigens war sie auch in dieser Funktion die erste Frau. Judith Stamm war zeitlebens eine Pionierin.
Judith, die Präsidentin
Als Präsidentin des Nationalrates, aber auch als Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) und weiterer Verbände und Gremien war sie stets der Aufgabe verpflichtet. Es ging nie um Judith, es ging immer um die Aufgabe und im Fokus stand immer die entsprechende Institution mit den vielfältigen Herausforderungen.
Judith, die Wissensbegierige
Gerne erinnern wir uns an die vor mehreren Jahren realisierten Morgenbetrachtungen im Radio DRS: immer tagesaktuell, erfrischend, kritisch, aber nicht verletzend. Judith Stamm blieb auch hier dem Grundsatz der Beharrlichkeit und Gründlichkeit treu. So hatte sie in unzähligen Kolumnen über aktuelle Themen geschrieben oder Leserbriefe veröffentlicht. Insbesondere in den letzten Jahren wollte sie anregen und der älteren Generation eine Stimme geben. Das Organ „Seniorenweb“ und die Pro Senectute sind ihr dabei sehr nahegestanden.
Judith, die Realistin
Judith Stamm war keine Feministin, aber eine hartnäckige Verfechterin von Frauenrechten, mit einer zutiefst demokratischen Grundhaltung, einem besonderen Verständnis für Kinder und Jugendliche, für Minderheiten und «grüne Anliegen» – alles im Sinne des CVP-Programms ’71.
Judith, die Freundin
Judith Stamm pflegte trotz oder gerade wegen ihres grossen Engagements ihren Freundeskreis. Wichtige Impulsgeberinnen waren die diversen überparteilichen Frauenstämme, die ihr Kraft für den nicht immer einfachen Alltag gaben. Die Unterstützung dieser Kreise gab ihr immer wieder die Bestätigung, dass die Zielrichtung ihrer politischen Tätigkeit stimmte.
Judith, die Zuhörerin
Als authentische Persönlichkeit war sie zu allen Personen immer die gleiche Judith: ob man ihr als Parlamentarierin begegnet war, oder ob man sie in der Stadt im Kaffee getroffen hat, aber auch bei einer hochpolitischen Diskussion auf der Strasse. Judith Stamm hat stets zugehört, Ratschläge erteilt und hat aus ihrer Sicht Stellung zu gesellschaftspolitischen Aktualitäten bezogen; nie belehrend und immer im Wissen, dass es auch andere Sichtweisen gibt. Sie war für alle jederzeit eine offene und weitsichtige Gesprächspartnerin.
Judith, die Visionärin
Prägend in ihrem Leben war die Beförderung als erste Frau, der damalig kriminologisch erfahrenen Untersuchungsrichterin, in das Offizierskorps einer Polizei. Als Oberleutnant bearbeitete sie während 20 Jahren lösungsorientiert schwierige Dossiers rund um die Jugendkriminalität. Es folgten 12 Jahre Tätigkeit als Jugendanwältin des Kantons Luzern. Eine berufliche Herausforderung im Bereich tertiäre Bildung bei der damaligen Erziehungsdirektion des Kantons war ihre nächste Station.
Danke, Judith Stamm
Judith Stamm war als Visionärin der Zeit weit voraus. Sie hatte die Gabe, zukunftsweisende Themen volksverträglich zu erklären. Judith hat jederzeit für die Bevölkerung und nicht für ihre politische Karriere politisiert. Judith Stamm bleibt uns als grosse, aber gleichzeitig bescheidene Persönlichkeit, als starke Frau und leidenschaftliche Politikerin in Erinnerung. Judith Stamm, sie fehlt der Partei, der Öffentlichkeit und mir. Danke, Judith.
Rico De Bona, Parteisekretär Die Mitte Kanton Luzern